Einschränkend

Ein Schrank schränkt etwas ein. Das ist seine Aufgabe. Manchmal sind sogar Gitter drum. Das ist dann stark eingeschränkt. Beim Schrank geht es darum, dass da etwas drinnen bleiben soll. Nicht rausgehen sozusagen. Deshalb ist da auch eine Tür davor, die kann man abschließen, manchmal jedenfalls.

Mein kleiner Zauberer sitzt im Rollstuhl, wenn er nicht im Rollstuhl sitzt, dann sitzt er überwiegend irgendwo auf dem Boden. Er bewegt seinen Oberkörper sehr häufig in einem flotten Tempo von rechts nach links und macht dabei die Feueratmung. Er kaut gern Seile und drückt auf Babyspielzeug, das dann irgendwelche Melodien abspielt. Manchmal steht er auch selber auf und geht zwei oder drei Schritte in eine Richtung. Manchmal krabbelt er auch in eine Richtung. Es gibt viele Dinge, die er nicht mag: viele Menschen, laute Menschen, fremde Menschen, laute Geräusche, zu viel von seinem Babyspielzeug, Kakophonie jedweder Art und Form, plötzliche Veränderungen, immer öfter sein Mittagessen, sich allein fühlen, zu lange an einer Stelle bleiben müssen, Waschen und Eincremen. Es gibt ein paar Dinge, die er mag: Flips, Mantras in geringen Dosen, Tücher, Seile und Bälle, Apfelsaft, seit neuem Kakao, Autofahren und wenn Autos an ihm vorbeifahren, Gras ausrupfen und Sand durch die Hände rieseln lassen und ganz viel davon essen, hohe Bäume, die sich hin und herbewegen. Genau wie er.

Mein kleiner Zauberer spricht nicht, er lautiert auch nicht. Er erzeugt Geräusche, quietscht manchmal und weint oft sehr laut. In letzter Zeit zu oft. So oft, dass mein Nervenkostüm gerade sehr, sehr dünn ist. Und da Gitterstäbe am Schrank meines Lebens sichtbar sind. Und das gefällt mir nicht.

Ehrlich gesagt übe ich mich dieses ganze Jahr 2023 schon in der Akzeptanz. Mein Jahr der Akzeptanz sozusagen. Und es ist zwar schon Oktober, aber manchmal denke ich, dass ich nicht sehr weit gekommen bin. Zu akzeptieren, was ist, ist manchmal soviel viel härter als man es überhaupt beschreiben könnte.

Er erschöpft, dieser Schrank, und gleichzeitig ist die Sehnsucht manchmal so riesig, ihn verlassen zu können. Rauszugehen aus diesem Schrank und draußen, um den Schrank herum, beim Leben, was dort existiert, irgendwie mitmachen zu können. Und manchmal schleicht sich so ein kleines Zeitfenster rein, morgens um halb 8, da denke ich: Hey, alles ist doch so gut, alle in der Schule und so – und am Abend weiß ich wieder, warum der Schrank da ist. Der Schrank gibt meinem kleinen Zauberer Sicherheit und Schutz. Er mag die Tücher darin und die liebende Wärme. Aber seine Geschwister und ich würden gern mal draußen toben gehen. So richtig laut und wild und so. Da kann der kleine Zauberer aber nicht mit. Wir haben es versucht, es war nicht gut. Also muss einer von uns bei dem kleinen Zauberer bleiben. Wir teilen es auf. Aber wir sind dann eben nicht zusammen. Und deshalb ist die Motivation für manche Dinge nicht so riesig. Die Motivation gegen den Umstand mit Aufwand.

Manchmal klappt es dann doch. Vorsichtig öffnen wir die Türen vom Schrank und schlüpfen raus. So für einen kurzen Moment. Und stellen dann fest: Die Welt da draußen, die ist schon irgendwie auch cool. Und vielleicht ist das nächste Mal nicht so weit weg wie das letzte Mal. Aber das nächste Mal ist dann doch so weit weg wie das letzte Mal, oder noch weiter. Manchmal.

Und manchmal bin ich so erschöpft, dass ich sogar den Schlüssel von innen nochmal umdrehe. Ich will nicht raus. Ich bin an den Schrank gewöhnt. Er ist ein Teil von mir geworden. Er erschöpft mich, und dass es draußen soviel mehr gibt erschöpft mich auch. Es erschöpft mich, dass ich nicht rauskann und nicht rauswill. Und es erschöpft mich, dass ich diese Sehnsucht nach Leben habe und dass ich meinen Zauberer so unfassbar gern dabei hätte. Genau wie seine Geschwister. Verfluchter Schrank. Das zu denken erschöpft mich auch. Bin ich undankbar, dass diese Gedanken durch meinen Kopf rasen? Ich will nicht undankbar sein. Undankbar sein ist noch schlimmer als nicht zu akzeptieren. Manchmal will ich den Schrank loswerden. Aber ich weiß auch gleichzeitig, dass das unmöglich ist. Warum will ich denn Unmögliches? Kann man lernen etwas unmögliches zu lieben?

Ich liebe meinen kleinen Zauberer über die Maßen. Ich liebe meine beiden anderen Kinder ebenso. Ich liebe unser Häuschen hier, ich liebe mein Leben mit meinen Kids hier im Häuschen. Aber ich lehne den Schrank noch immer ab. Ich lehne die Gitter drumherum ab. Ich lehne meine Erschöpfung ab. Und ich frage mich, an welcher Stelle all die Dinge, die ich ablehne, vielleicht gleichzeitig eine Ausrede für mich sind oder eine Entschuldigung. Dafür, dass ich mich vielleicht nicht so anstrengen muss. Könnte das nicht sein?

Ich bin auf dem Weg. Manchmal außerhalb vom Schrank. Und meistens drinnen. Aber ich bin auf dem Weg.